Storytelling für das Allgäu

Engelefliegen, Schlossweihnacht & ein Adventsbrauch in Isny

Da war was!

Dirk Mader und seine Kameraden verleihen bei der Isnyer Schlossweihnacht Kinderwünschen Flügel. Die vier Männer lassen auf dem Weihnachtsmarkt im Schloss-Innenhof „das Engele fliegen“. Der wiederbelebte, mehr als 150 Jahre alte, Allgäuer Advents-Brauch lässt die Augen von Klein und Groß glänzen, wie ein geschmückter Weihnachtsbaum mit Kugeln und Lametta. Engelefliegen Isny, das ist einmalig.

Samtig blau senkt sich die Dämmerung über Isny. Immer mehr Menschen streben dem festlich erleuchteten schmiedeeisernen Portal des Schlosshofes zu. Wie eine liebevolle Oma empfängt der Weihnachtsmarkt in der barocken Hofanlage die Besucher mit dem Duft nach Lebkuchen und Bienenwachs und einm anheimelnden Licht, das aus den Markthütten auf die Fußwege leuchtet. Obwohl noch zahlreiche Besucher der Isnyer Schlossweihnacht das Angebot an regional gefertigtem Kunsthandwerk begutachten oder eine Kleinigkeit essen, liegt bereits ein Hauch freudiger Aufregung in der Dezemberluft. Vereinzelt taumeln Schneeflocken aus dem Abendhimmel und setzen sich auf kalte Nasen. Das Engelefliegen beginnt bald.

Engelefliegen und Weihnachtsmarkt in Isny

„Und es duftet nach Glühwein und Lebkuchen …“, Foto: Viola Krauss

Erstmals beim Engelefliegen in Isny

Der Turm von St. Georg und Jakobus blinzelt hinter der beinahe fußballfeldgroßen Dachfläche des früheren Abthauses hervor. Der große Zeiger der Uhr dort rückt vor allem für die kleinen Besucher nur quälend langsam in Richtung der Sechs. Immer häufiger wandern die Blicke nach oben zu einer Fensterreihe unterhalb des Giebels. In deren Mitte zieht ein mit Glühbirnen bekränzter roter Vorhang alle Aufmerksamkeit auf sich.

Auch die der siebenjährigen Kathi aus dem benachbarten Gestratz. Sie ist mit ihrer Mama heute das erste Mal beim Engelefliegen in Isny und wippt vor Aufregung in ihren Winterstiefeln vor- und zurück. Mit der rechten Hand hält sie ihre Mütze fest, während sie immer wieder den Kopf in den Nacken legt, um unter ihren blonden Ponyfransen zum Fenster hinauf zu blinzeln. Der Winterwind spielt mit dem Vorhangstoff hoch oben. Kathi hält fast den Atem an und flüstert gleich darauf aufgeregt der Mama zu: „Ich glaub‘, ich hab‘ grad einen Flügel gesehen.“

„Oh, ist das Engele schön“

Endlich. Die Musikkapelle im Schlosshof beginnt die ersten Takte des Liedes „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ zu spielen. Langsam teilt sich der Vorhang. Als der blondgelockte Engel im elfenbeinfarbenen Gewand dann im Fenster-Rechteck zu sehen ist, geht ein Raunen durch die Menschenmenge. Fast majestätisch schwebt die himmlische Figur in Richtung Schlosshof herab.

Kathi zerrt vor Aufregung am Jackenärmel ihrer Mutter. Der Engel mit den goldenen Flügeln kommt immer näher. Von Atemwölkchen begleitet, wispert das Mädchen: „Oh, ist das Engele schön, und das kommt jetzt zu uns?“ Ihre Mama nickt lächelnd. Mit glänzenden Augen verfolgen die Siebenjährige und hunderte anderer Besucher die letzten Meter des himmlischen Gleitfluges.

Über einem markierten Viereck, um das Klein und Groß herumstehen, hält die Engelsfigur an. Dort warten in einer Art „himmlischem Garten“ sechs junge Mädchen mit Feder-Flügeln und weißen Gewändern auf ihren Einsatz. Über ihnen tanzt das „Isnyer Engele“ nach seiner „Landung“ ganz sachte am Drahtseil. Das ist das Zeichen für die sechs Engel-Mädchen, sich mit ihren Körbchen eifrig über die hölzerne Umrandung zu beugen und Erdnüsse und Mandarinen in die entgegengestreckten Kinderhände austeilen.

Kathi rückt schließlich auch in die erste Reihe vor und bekommt eine Engelsgabe. Obwohl weder Erdnüsse noch Mandarinen heutzutage etwas Besonderes sind, steckt sie diese selig in ihre Jackentasche und schaut wieder nach oben zum Isnyer Engele. Als sich die Reihen um dessen irdische Helferinnen wieder lichten, schaukelt die Figur erneut und entschwebt wieder in Richtung seines Himmels hoch droben am Giebel.

Engelefliegen, das Fenster ist geöffnet

Endlich, das Engele fliegt los. Ganz sachte bewegt es sich den Zuschauern entgegen / Fotos: Viola Krauss

Engelefliegen will geübt sein

Die Kinderaugen strahlen, das Engele kommt / Fotos: Viola Krauss

Engele im Isnyser Schlosspark

Die Engeleschar verteilt Mandarinen und Nüsse / Fotos: Viola Krauss

Engelefliegen in früheren Zeiten

Wie das Engelefliegen in Isny begann

An seinen ersten für Kinder derart magischen Moment, kann sich Dirk Mader, heute Chef der „Engele-Flieger“, noch gut erinnern: „Ich muss so acht oder neun Jahre alt gewesen sein, da wurde eine andere Engelsfigur damals noch in der Espantorstraße an der Hauswand entlang nach unten gelassen. Und der Nikolaus kam mit einem Schlitten und hat kleine Geschenke verteilt.“ Seit jener Zeit vor rund 45 Jahren ist das Isnyer Engelefliegen öffentlich.

„Früher war es in vielen Isnyer Familien Brauch, dass am 21. Dezember, dem Thomastag, für die eigenen Kinder das Engele kam. Da wurde dann vom Dachboden aus eine Engelsfigur ein Stockwerk tiefer zu einem Fenster runtergelassen, hinter dem schon die Kinder gewartet haben,“

erzählt der Vater dreier Kinder, der vor fünf Jahren das Engele-Flieger-Amt von seinem Vorgänger Anton Kiestaller übernommen hat.

 Seit bald 50 Jahren ist das Engelefliegen öffentlich

Geburtshelfer des neuen, öffentlichen Engelefliegens aber war Hans Staffe. Der damalige städtische Bauhofleiter wollte Ende der 1970er Jahre nach einigen selbst organisierten Nikolaus-Einsätzen in der Altstadt den Kindern einen zusätzlichen Aha-Effekt bieten – schließlich gibt es Nikolaus und Knecht Ruprecht überall.

Von einem seiner Nikolaus-Auftritte sei er spätabends heimgekommen und habe mit seiner Schwiegermutter noch über den „Klosa“ und andere alte Weihnachtsbräuche geredet. „Sie konnt‘ sich noch erinnern, dass sie als kleines Mädle vor dem ersten Weltkrieg mit anderen Kindern zum Spital gegangen ist. Die Senioren dort haben ihnen damals von den oberen Fenstern mit Nüssen und Äpfeln gefüllte Körbe an Schnüren auf die Straße runtergelassen. Man nannte sie den oder die ‚guten Engel‘.“

Mit leuchtenden Augen und einem Schmunzeln im Gesicht fährt der mittlerweile fast 80-Jährige fort: „Des war genau des, was i g‘sucht hab. Des hat bei mir zündet.“

Die wohl schon abgewandelte Form des Engelefliegens aus der Schilderung seiner Schwiegermutter im Kopf, machte sich Staffe ans Werk: Er zeichnete auf eine alte Holzplatte die Umrisse einer Engelsfigur, sägte diese aus und bemalte sie entsprechend. Seine Frau Marlies sorgte für Haare und das Engelkleidle. „Und an jeden Arm gab‘s natürlich ein Körble.“

Startschwierigkeiten

Zunächst ließ der „Engelsvater“ den nachgebauten Himmelsboten noch senkrecht an der Hauswand herab. Später schwebte das Isnyer Engele an einem schräg über die Straße gespannten Drahtseil über den Köpfen der Kinder und der Stadtkapelle. Passend zum Engel-Auftritt stimmten die Musiker schon damals „Vom Himmel hoch“ an.

„Unser Engel hatte ganz leichte, bewegliche Flügel, die mit einem Drahtstiftle an der Figur eingehängt waren. Einmal rutschte beim Auftritt einer der Flügel raus und fiel auf ein paar Musiker. Da lachen wir heute noch drüber, wenn wir uns in der Weihnachtszeit treffen“,

erinnerte sich Staffe.

Hinter den Kulissen des Engelefliegens

Startschwierigkeiten gibt es heute beim Engelefliegen nicht. / Foto: Viola Krauss

Gleichmäßige Schritte – das Engele fliegt manuell

Immer näher schwebt die Engelsfigur ihrem „Himmel“, der Fensteröffnung hoch oben entgegen. Für die Menschenmenge im Schlosshof unsichtbar, stehen Dirk Mader und Jürgen Tischer auf dem Dachboden links und rechts des Engel-Himmels.

Wolfgang Musch dagegen entfernt sich Schritt für Schritt von seinen Kameraden, immer weiter ins Dunkel des Dachbodens hinein. In seinen Händen hält er ein dünnes Seil. Unbeirrbar geht der großgewachsene Mann weiter. Mit seinen gleichmäßigen Schritten, dem Seil und zwei Umlenkrollen sorgt er schließlich dafür, dass die Engelsfigur majestätisch zur Menschenmenge und wieder hinauf zu ihrem Startplatz schwebt.

Als der Engel wieder im Fenster-Rechteck auftaucht, lösen Mader und Tischer die zwei Vorhangschnüre, angeln mit Apfelernte-Greifzangen nach dem Stoff und verschließen ihn mit drei Klammern. Der Chef der Engele-Flieger erklimmt eine Leiter und nimmt den nachgebildeten Himmelsboten vom Haken.

„Sonst wär‘ er bis zum nächsten Abend arg zerzaust. Hier oben luftet es schon mächtig“,

erklärt er.

Eisige Temperaturen, Glühwein und das Weihnachtspostamt

Der windumtoste Engel-Startplatz war auch schon mal der Grund, weshalb ihm mitten im Winter für ein paar Augenblicke glühend heiß wurde: „Da hat es einmal erst geregnet und wurde kurz darauf eisig kalt. Die Musiker haben die ersten Töne gespielt, wir an unseren Vorhangschnüren gezogen, doch es tat sich nichts. Plötzlich ist der Stoff gerissen. Die Vorhänge waren zusammengefroren. Mit kurzer Verzögerung konnte das Engele aber doch starten“, erzählt Mader, während er die Figur an einen Balken hängt und mit den Fingern liebevoll ordnend durch deren Locken fährt.

Kathi hat unterdessen ein paar Schritte weiter im himmlischen Postamt ihren Wunschzettel geschrieben und eingeworfen. Sie will natürlich auch nächstes Jahr das Engele wieder fliegen sehen.

Weihnachtspostamt

Der direkte Draht zum Christkind … / Foto: Viola Krauss

Nachdem das Fenster mit einem hölzernen Laden verschlossen ist, durchqueren die Engele-Flieger den langen, verwinkelten Schlosstrakt und stehen einige Minuten später am Glühweinstand.

Weiterführende Informationen

Isnyer Schlossweihnacht 2022

von Mittwoch, 30. November bis
Sonntag, 4. Dezember
Innenhof des Isnyer Schlosses
Öffnungszeiten:
Mi, Do und Fr von 16 bis 21 Uhr
Sa von 13 bis 22 Uhr
So von 13 bis 20 Uhr
Engelefliegen täglich 18.30 Uhr

Eugen Felle und das Engelefliegen

Der bekannte Postkartenmaler Eugen Felle aus Isny hat Ende des 19. Jahrhunderts den Brauch des Isnyer Engelefliegens für das Buch „Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus“ von Heimatforscher Karl August Reiser illustriert und geschildert.

Datum der Erstveröffentlichung 1894:

„Eine eigenartige und sinnige Sitte bestand am Thomastag in Isny und Kempten. In Familien wo man kleinere Kinder hatte, ließ man wenn die Wohnungsverhältnisse nur einigermaßen hierzu günstige waren, nach Einbruch der Nacht „das Engele kommen“.

Vom obersten Stockwerk ließ man eine Engelsfigur herabschweben vor ein Fenster im zweiten Stock. Das Engele hatte zwei brennende Kerzlein in den Händen und ein oder zwei Körblein am Arm. Am offenen Fenster standen die Kinder voller Erwartung und beteten oder sangen meist voll Innigkeit ein Krippenlied. Hernach wurde dem Körblein der Inhalt entnommen, und das Engele schwebte wieder empor. Die entnommenen Gaben bestanden meist in Äpfeln, Walnüssen und Lebkuchen.

Zuweilen benutzten in Isny böse Buben die Gelegenheit, in herzlosester Weise ihr Wesen zu treiben. Sie lauerten unten mit Stangen, an denen Haken oder Nägel eingeschlagen waren, und wenn die ungeduldig harrenden Kinder eben im Begriffe waren nach dem Korbe zu langen, so suchten sie schnell mit ihrer Stange dessen habhaft zu werden oder ihn umzuleeren oder gar herunterzuschlagen, wodurch natürlich alle Freude der Kinder in unbarmherzigster Weise vergällt wurde. (Jetzt findet man den alten Brauch höchst selten mehr.)

Nach schriftlichen Mitteilungen der Herren E.Felle, in Isny und L.Huber in Kempten.“ Auch im rund 70 Kilometer entfernten Kaufbeuren war der Brauch in vielen, meist evangelischen Familien einst gegenwärtig.

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